Digitalisierungsstrategien

 

StrategieDigitalisierung, Industrie 4.0 und die gesamte Transformation von Unternehmen, Produktion, Dienstleistung und zugehörigen Prozessen prägen nicht nur die derzeitige Diskussion der Industrieentwicklung. Wie geschickt Unternehmen ihre digitale Strategie entwickeln und umsetzen, entscheidet über deren Zukunftsfähigkeit. Strategien des Lean Managements machen den Prozess schlank, sicher und erfolgreich.

Zwar wird zurzeit in Artikeln, Studien und Reden beklagt, dass Deutschland in Sachen Digitalisierung und Industrie 4.0 gerade gegenüber den USA zurück hängt. Die Aussichten sind aber nicht schlecht, dass bestehende Lücken schnell geschlossen werden können. Der Schlüssel dazu liegt in der Strategie, nicht in der Technologie. Aussagen über Verbreitungsquoten von Technologien, wie zum Beispiel Big Data Analyse, sind wertlos, solange nicht klar ist, welcher Mehrwert damit geschaffen wird.

Industrie 4.0 . Themenschwerounkt auf der Hannover Messe 2015
Industrie 4.0 - Themenschwerpunkt auf der Hannover Messe 2015

Stärken nutzen: Die deutsche Industrie ist besser vorbereitete als es derzeit scheint

Erst wenn Technologien, wie Big Data dazu beitragen, Produkte und Leistungen zu verbessern, neue zu kreieren und darüber eine digitale Rendite zu erwirtschaften, wird Technologie vom Kosten- zum Erfolgsfaktor. Dafür braucht es eine klare Strategie. Viele Unternehmen in Deutschland, gerade Mittelständler, sind hier sehr gut aufgestellt. Sie besitzen klar umrissene Produkt- und Marktprofile und sind erfahren darin, die Einführung neuer Technologien so zu managen, dass sie langfristig profitabel sind. Hilfreich ist darüber hinaus, dass produzierende Unternehmen über Jahrzehnte verlässliche Routinen in Prozessmanagement und Prozessoptimierung entwickelt haben. Gerade die dort verbreiteten Prinzipien des Lean Managements - Verschwendung vermeiden, kundenorientiert denken und arbeiten, kontinuierliche Verbesserung u.a. - sind fest verankert im Managementhandeln. Diese Tugenden können sinnvoll auch auf digitale Transformationen angewendet werden. Digitalisierung lean führt zu schlankem, sicherem und erfolgreichen Management von digitalen Strategien und Geschäftsmodellen.

Die eigene Digitalstrategie systematisch gestalten

Einen Orientierungsrahmen für ein strategisches Vorgehen bei der Digitalisierung  bietet eine Landkarte digitaler Entwicklungsräume. Digitalisierung wird in zwei Dimensionen abgebildet. Auf der y-Achse wird unterschieden, ob Digitalisierung sich auf existierende, auf Erweiterungen existierender oder auf neue Produkte und Leistungen bezieht. Auf der x-Achse wird die Kundendimension abgebildet: links Bestandskunden, in der Mitte neue Kundensegmente, die den bisherigen Kundengruppen ähnlich sind und rechts neue Kundensegmente, die sich deutlich von bisherigen Bestandskunden unterscheiden.

Digitalisierung lean - Entwicklungsräume für Digitalisierungsstrategien

Entwicklungsräume für Digitalisierungsstrategien
(© Uwe Weinreich, Verwendung lizensiert unter Creative Commons BY-SA v 3.0)

Aufgrund dieser Darstellung lassen sich strategische Entwicklungsprozesse in 5 Kategorien beschreiben, die jeweils unterschiedliche Voraussetzungen, Vorteile und Risiken haben.

Raum A: OptimierungRaum A:  Effizienzgewinn und höherer Produktreife durch digitale Optimierung

Digitalisierung kann sich darauf beschränken, die Herstellung bestehender Produkte und Leistungen zu optimieren und im Markt der bisher adressierten Kernkunden zu bleiben. Das kann in Form von CRM-Aktivitäten, digitalen Service-Angeboten, aber auch in effizienz- und qualitätssteigernden Maßnahmen in der Produktion selbst geschehen. Die Anfänge der Digitalisierung liegen bereits weit zurück und gründen in Verfahren wie CAM und CIM für die Produktion und EDI für kaufmännische Transaktionen. So ziemlich alle Unternehmen verfügen über Erfahrungen in zumindest in Digitalisierung der Produktion. Das ist eine stabile Basis und etablierte Unternehmen fühlen sich daher in Raum A häufig zu Hause und sicher - nicht selten zu sicher, denn es ist auch das Feld, in dem Schocks durch disruptive Umbrüche am stärksten erschüttern. Über Jahrzehnte hatte die Musikindustrie Hörerlebnisse intensiviert, Vertriebswege optimiert und neue verlustärmere Tonträger entwickelt. Dass der Markt durch zunächst illegale, dann legale Downloads und später Streaming-Dienste komplett umgewälzt wird, damit hatte kein Manager der Musikkonzerne gerechnet.

Detailinformationen zur Raum-A-Strategie

Raum B: Organisches WachstumRaum B: Neue Angebote und Kundensegmente testen

Fast zwangsläufig eröffnet die Digitalisierung von Fertigung, Logistik, Service und Marktschnittstellen neue Möglichkeiten. Mancher zusätzliche Nutzwert zeigt sich erst in der Erprobung. So kann eine Flexibilisierung der Produktion dazu führen, dass Massengüter auf eine Art und Weise individuell konfektionierbar werden, wie es sonst nur mit erheblichem Mehraufwand und damit nicht mehr marktfähigen Kosten möglich war. Darin steckt ein Grundgedanke von Industrie 4.0. Inwieweit er umsetzbar ist, hängt von den jeweiligen Prozessen ab, beispielsweise, ob Individualisierung rein digital gesteuert werden kann, oder doch noch nennenswerte Prozessbrüche auftreten.

Oftmals ist es leichter, Erfahrungen mit Digitalisierung zu sammeln, wenn nicht die Kernprozesse, sondern ergänzende Produktmerkmale und Services in Angriff genommen werden. In vielen Industrieunternehmen ist das bereits geschehen. So ist es Standard, z.B. technische Datenblätter digital bereit zu stellen und Kunden über Customer-Self-Service-Plattformen zu unterstützen. Die meisten Unternehmen besitzen also Erfahrungen damit, ergänzende Leistungen zu digitalisieren und über digitale Kanäle erweiterte Kundensegmente anzusprechen.

Darüber hinaus führen neue technische Möglichkeiten dazu, dass Angebote signifikant ausgebaut werden können. Beispielsweise sind Sensoren mittlerweile in hoher Qualität und zu Preisen verfügbar, die im Maschinenbau den Preis des Produktes kaum erhöhen. Interessant wird es, wenn Sensorik vernetzt wird, so dass das Herstellerunternehmen mit Daten aus dem realen Betrieb arbeiten kann. Diese Daten können ein Schatz sein, der nicht nur zu weiteren Produktverbesserungen führt, sondern auch zusätzliche Dienstleistungen ermöglicht, wie Fernwartung, Einsatzoptimierung und anderes mehr.

Digitalisierung kann auch ein Weg sein, um im Sinne einer Markterweiterung neue Kundengruppen anzusprechen, die den Kernkundengruppen des Unternehmens ähnlich sind. So lassen sich durch automatisierte Kaufprozesse, die z.B. einen Online-Konfigurator einbinden, Kundengruppen gewinnen, die eher an niedrigpreisigen Angeboten interessiert sind und für die sich der frühere, umfangreiche Vertriebs- und Beratungsprozess nicht gelohnt hat.

In den meisten Fällen werden beide Entwicklungen Hand in Hand gehen. Neue Produkt- und Leistungsmerkmale durch Digitalisierung führen auch dazu, dass neue Kundengruppen angesprochen werden können, die bisher nicht oder nur in Ausnahmefällen zur Kundschaft des Unternehmens gehörten. Gelingt diese Entwicklung ist organisches Marktwachstum die Folge.

Detailinformationen zur Raum-B-Strategie

Raum C: GeschäftsmodellübertragungRaum C: Der Sprung in bisher unbekannte Kundensegmente

in einigen Fällen gelingt es, mit unveränderten Produkten ganz neue Kundensegmente anzusprechen, die bisher nicht im Fokus des Unternehmens standen. Voraussetzung dafür ist, dass das betreffende Produkt einen Nutzwert in sich trägt, der bisher nicht erkannt und vermarktet wurde. Auch wenn es nicht häufig vorkommt, so können trotzdem enorme Potenziale darin verborgen liegen. Erinnern Sie sich noch an die Anfänge der Mobiltelefonie? Große, schwere Apparate, die enorm teuer waren. Zielkunden: Geschäftsleute aus den Top-Etagen. Die Geräte wurden kleiner, telefonieren blieb aber teuer. Mit Nutzung des SMS-Kanals, der ursprünglich zu Wartungszwecken erfunden wurde, erhielten auf einmal ganz neue Kundengruppen Zugang zu bezahlbarer mobiler Kommunikation, für die sie vorher unerreichbar war. Ein Milliardenmarkt war geboren.

Häufiger kommt es jedoch vor, dass neue Kundengruppen durch digitale Erweiterungen des Leistungsspektrums auf Angebote reagieren, zu denen sie früher keinen Zugang hatten. Eine eindrucksvolle Entwicklung hat beispielsweise die Druckbranche erlebt. Durch die Digitalisierung des kompletten Druckprozesses und dadurch, dass moderne Computerprogramme heutzutage vielen Menschen Möglichkeiten eröffnen, selbst Druckvorlagen zu erstellen, hat sich der Markt radikal verändert. Großdruckereien unterhalten über hochentwickelte digitale Online-Auftragsassistenten direkten Kontakt zu Kunden, deren Betreuung früher viel zu aufwändig gewesen wäre. Digitalisierung des Unternehmens, Digitalisierung im Büro oder Wohnzimmer der Kunden und neue Kanäle der Kommunikation wirken marktverändernd zusammen.

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Raum D: Neue GeschäftsfelderRaum D: Das Kerngeschäft bewahren und mit Neuem begeistern

Etablierte Unternehmen kennen ihre Märkte und Kunden sehr gut und pflegen oftmals sehr enge und vertrauensvolle Beziehungen. Das gilt insbesondere für B2B-Unternehmen. Aufgrund dieser engen Bindung und mit einem überschaubaren Aufwand an zusätzlicher Kundenforschung kann es gelingen, Probleme der Kunden zu identifizieren, für die es bisher keine Lösung gibt und Produkte und Leistungen zu entwickeln, die genau diese Lücke füllen. Gerade Unternehmen in Deutschland haben auf diesem Feld vielfach Erfolgsgeschichten geschrieben. Derartige neue Lösungen auch auf digitale Art und Weise zu entwickeln ist, ist ein logischer nächster Schritt.

Die Herausforderung besteht unter Umständen darin, die notwendige digitale Kompetenz im Haus aufzubauen oder sie über Agenturen oder Kooperationen einzukaufen. Dennoch kann es sich lohnen, denn es ist immer leichter, gute Entwickler für digitale Lösungen zu finden, als einen neuen Markt zu öffnen.

Detailinformationen zu Raum-D-Strategien

Raum E: Neues GeschäftsmodellRaum E: Startup ohne Netz und doppelten Boden

Der Eintritt mit völlig neuen Produkten einen komplett neuen Markt ist der größte Sprung, den ein Unternehmen machen kann. Anforderungen, Aufwand und Risiko sind wesentlich höher als in anderen Strategien. Dennoch kann es sich lohnen, wenn Sie das richtige Produkt haben. Ein Musterbeispiel dafür war bis zu dessen Niedergang Nokia, das über mehrere solche Sprünge vom Gummistiefel und Reifenproduzenten zum Fertiger von Elektronikkomponenten und dann zum Weltmarktführer für Mobiltelefone und deren Betriebssystem wurde. Vielleicht hätte der Niedergang vermieden werden können, wenn Nokia rechtzeitig zum nächsten großen Sprung angesetzt hätte.

Die Raum-E-Strategie beschreibt übrigens ziemlich genau die Situation, in der sich Startup-Unternehmen befinden: Neues Produkt, keine Beziehung zu Kunden, ja oftmals nur rudimentäre Kenntnis des Marktes und ein hohes Risiko zu scheitern. Genau für diese Zielgruppe hat Eric Ries sein Buch Lean Startup geschrieben. Die Vorgehensweisen und Methoden darin passen auch auf etablierte Unternehmen, die mit neuen Produkten neue Märkte erobern wollen.

Die richtige Strategie finden

Welche Strategie die richtige ist, hängt stets vom Einzelfall ab. Und da muss sehr differenziert hingeschaut werden. Während die Fabrik der Zukunft Gewinner von Industrie 4.0 sein wird, werden insbesondere kleine Zulieferbetriebe laut Wirtschaftswoche vom 14.04.2015 zu den Verlierern gehören. Es ist also nicht die Branche allein, die über die Strategie entscheidet, sondern die spezifische Situation.

In der selben Branche können unterschiedliche Herangehensweisen zielführend sein. Die Außenwerber Ströer und WallDecaux verfolgen grundsätzlich unterschiedliche Strategien. Während WallDecaux eine klare Fokussierung auf sein Kerngeschäft verfolgt und dabei durch Digitalisierung interne Prozesse optimiert (Raum A),  Werbetreibenden gleichzeitig Zusatznutzen durch bessere Nachverfolgbarkeit von Werbemedien generiert (Raum B) und gleichzeitig darauf achtet, digitale Kompetenz im eigenen Unternehmen zu halten und auszubauen, hat Ströer in den letzten zwei Jahren insbesondere durch eine zunehmende Ausrichtung auf digitale Medien und die Akquisition von Medienunternehmen von sich Reden gemacht (Raum D bis E). Welche Strategie langfristig erfolgreicher ist, wird die weitere Entwicklung zeigen.

veröffentlicht: 27.08.2015, © Uwe Weinreich